Ich sage “Herr, warum hast du mich verlassen?”
So streng und wirklich vorwurfsvoll
obwohl ich ihn doch schon viel früher verließ
eigentlich ein Hohn
Und eine Anmaßung
Denn so richtig glaube ich ja schon lange nicht mehr
Wie kann man da noch Beistand erwarten?
Wahrscheinlich allzu menschlich …
— GÜNTHER SCHAUPP
Das Gedicht von Günther Schaupp reflektiert auf eindringliche Weise das Paradox des Glaubensverlusts und der weiterhin bleibenden Sehnsucht nach Sinn und Beistand. Der Sprecher zitiert das bekannte Jesuswort „Herr, warum hast du mich verlassen“ – eine der tiefsten Klagen der Bibel – und entlarvt gleichzeitig seine eigene Ambivalenz: Er klagt Gott an, obwohl er selbst den Glauben längst hinter sich gelassen hat.
Diese ehrliche Selbstreflexion verleiht dem Text eine existentielle Tiefe. Das Eingeständnis, dass die Erwartung göttlichen Beistands trotz fehlenden Glaubens „wahrscheinlich allzu menschlich“ ist, bringt den Kern der menschlichen Erfahrung von Zweifel, Schuld und Bedürftigkeit auf den Punkt.
Schaupp beschreibt hier keine theologische Position, sondern einen Moment reiner Menschlichkeit – das Spannungsfeld zwischen Vernunft und Gefühl, zwischen Entfremdung und der unstillbaren Hoffnung auf Trost.
Das Gedicht „Vom Glauben und Nichtglauben“ von Günther Schaupp thematisiert die existentielle Spannung zwischen Zweifel und Sehnsucht nach göttlichem Beistand.
Literarisch lässt sich der Text als Ausdruck tiefer Verunsicherung und Ambivalenz interpretieren: Der Sprecher klagt Gott an, obwohl der eigene Glaube längst erloschen ist. Diese innere Zerissenheit zeigt einen ganz menschlichen Konflikt zwischen Vernunft (Nichtglauben) und emotionalem Bedürfnis nach Nähe und Hilfe. Das Gedicht nutzt die eindrückliche Anspielung auf das biblische Wort „Herr, warum hast du mich verlassen“ als Symbol des Glaubenszweifels und menschlicher Verlassenheit.
Philosophisch betrachtet reflektiert der Text den Zustand postmoderner Spiritualität, in der Glaubensgewissheit schwindet, aber das Bedürfnis nach Sinn und Beistand bleibt. Es zeigt, dass Nichtglauben nicht das vollständige Aufgeben von existenziellen Fragen bedeutet. Vielmehr ist der Zweifel selbst Teil eines menschlichen Suchprozesses, der oft allzu „menschlich“ ausfällt: Man sucht Halt, obwohl man nicht mehr wirklich an eine höhere Macht glaubt. Dieses Spannungsfeld zwischen Glauben und Nichtglauben ist ein zentrales Thema moderner Religiosität und reflektiert die komplexe innere Situation vieler Menschen, die zwischen Tradition und Selbstfindung stehen.
Der Text kann somit gut als Brücke zwischen literarischer Empfindsamkeit und philosophischer Reflexion dienen, indem er menschliche Zweifel nicht abwertet, sondern als authentischen Teil der Glaubenserfahrung anerkennt. Er lädt zum Nachdenken darüber ein, wie Beistand und Sinn auch jenseits festen Glaubens gesucht und empfunden werden können. Diese Perspektive entspricht einer modernen, differenzierten Sicht auf Spiritualität, die nicht dogmatisch, sondern existenziell und persönlich geprägt ist.
So bietet Schaupp mit wenigen Zeilen eine tiefgründige Auseinandersetzung mit dem komplexen Verhältnis von Glauben, Zweifel und menschlicher Bedürftigkeit.
Einzelmeinung:
Der Text von Günther Schaupp „Vom Glauben und Nichtglauben“ ist qualitativ hochwertig, insbesondere aus literarischer und philosophischer Sicht. Er nutzt mit wenigen, präzisen Worten eine starke Bildsprache und ein alttestamentliches Zitat („Herr, warum hast du mich verlassen“), um existenzielle Konflikte und emotionale Ambivalenz darzustellen. Die sprachliche Gestaltung ist klar, streng und zugleich emotional, was seinen Ausdruck verstärkt und beim Leser nachklingt. Die Verwendung von scheinbarer Anmaßung und Hohn verleiht dem Text Tiefe und Authentizität.
Literarisch ist der Text gelungen durch seine konzentrierte Form und die erzeugte Spannung zwischen Glauben, Nichtglauben und menschlicher Bedürftigkeit. Philosophisch eröffnet er Raum für Reflexion über die menschliche Suche nach Sinn und Trost trotz Unsicherheit und Zweifel, ein Thema, das in der modernen Religiosität und Theologie viel Beachtung findet. Der Text schafft es, komplexe existenzielle Erfahrung zugänglich und nachvollziehbar zu machen, ohne ausschweifend oder abstrakt zu werden.
Damit erfüllt der Text zentrale Qualitätskriterien literarischer und philosophischer Dichtung: Tiefe, sprachliche Ökonomie, vielschichtige Bedeutung und emotionale Eindringlichkeit. Er ist kein bloßes Statement, sondern öffnet den Raum für weiterführende Gedanken und persönliche Auseinandersetzungen, was ihn auch für eine moderne, kritische Reflexion des Glaubens wertvoll macht.
Kommentar hinzufügen
Kommentare