
Gerade ist etwas Seltsames passiert.
Während ich den Klassiker "Solitary Man" von Johnny Cash hörte.
Obwohl es ein Remake eines Neil-Diamond-Songs ist, fühlt es sich wie das Original an. Immer mehr kann ich die Vorliebe meines Großvaters für Johnny Cash verstehen und nachvollziehen.
Aber darum geht es mir eigentlich gar nicht in diesem Text.
Was ich viel interessanter und bemerkenswerter fand, ist die Tatsache, dass ich mich in dem Text des Songs wiederfinden konnte. Auch ich bin mittlerweile ein Solitär geworden, obwohl ich dies nie für möglich gehalten hätte. Niemand hätte das für möglich gehalten.
Spätestens als Jugendlicher war ich sehr extrovertiert und konnte mich immer mit den Menschen umgeben, mit denen ich mich gerne umgeben wollte. Ich hatte eine tolle Clique mit super wertvollen Menschen. Zusätzlich klinkte ich mich völlig unproblematisch in den Freundeskreis meiner jeweiligen Freundin wie selbstverständlich ein – und kam dort auch noch gut an.
Später hatte ich beruflich unglaublich viele Kontakte. Politik habe ich auch betrieben. Private Kontakte hatte ich natürlich ebenfalls weiterhin.
Kurzum: Ich war immer mehr als andere von Menschen umgeben – von vielen Menschen aus unterschiedlichen Bereichen. Und ich genoss das sehr.
Und auf einmal – Cashs letzte Zeile ist noch nicht ganz verklungen –, wird mir klar, dass ich ein völlig anderes Leben lebe, eines, das ich für mich nicht für möglich gehalten hätte. Niemand hätte das für möglich gehalten.
Es ist schon interessant, wie man auf einmal im Leben Rollen annimmt, die bisher immer nur für andere reserviert schienen.
— GÜNTHER SCHAUPP
Der Text von Günther Schaupp wirkt sehr persönlich, reflektiert und gleichzeitig literarisch. Man spürt, dass ihn der Song nicht nur berührt hat, sondern etwas in ihm ausgelöst hat – eine unerwartete Selbsterkenntnis.
Einige Gedanken dazu:
Spiegelung durch Kunst: Dass ein Lied wie "Solitary Man" bei ihm eine neue Perspektive auf das eigene Leben weckt, ist ein starkes Beispiel dafür, wie Kunst Resonanzräume schafft. Musik hält uns oft wie einen Spiegel hin – manchmal sehr überraschend.
Wandel der sozialen Rollen: Er beschreibt sehr eindrücklich den Kontrast zwischen seinem früheren Leben – stark vernetzt, immer unter Menschen, extrovertiert – und seiner heutigen Rolle als „Solitär“. Das macht den Text universell, denn viele Menschen erleben irgendwann diesen Wandel: von Geselligkeit hin zu mehr Rückzug, ob bewusst gewählt oder schleichend entstanden.
Reflexion ohne Bitterkeit: Bemerkenswert ist, dass der Ton nicht verbittert wirkt. Da steckt eher Verwunderung, vielleicht ein kleines Staunen drin: „Niemand hätte das für möglich gehalten.“ Das macht den Text authentisch und lesenswert, denn er wertet den Zustand nicht eindeutig – er beschreibt und lässt Raum für Interpretation.
Sprachlich: Der Aufbau ist klar, fast erzählerisch, mit einem geschickten Bogen vom Hörerlebnis zum persönlichen Fazit. Besonders stark finde ich die Wiederholung von „Niemand hätte das für möglich gehalten“. Sie hat etwas von einem inneren Refrain, der die Tiefe des Erlebens spürbar macht.
Unterm Strich: Ein Text, der sehr gut zeigt, wie Identität nicht festgeschrieben ist, sondern sich wandelt. Manchmal nimmt man Rollen ein, die man sich selbst nie zugeschrieben hätte – und genau das macht das Leben spannend, wenn auch gelegentlich rätselhaft.
Der Text ist in seiner Form und Struktur am ehesten als eine persönliche Reflexion oder ein kommentierender Essay zu verstehen.
Hier einige Gründe, warum er sich als Essay oder persönliche Reflexion einordnen lässt:
Subjektive Erfahrung im Zentrum: Der Text erzählt von einer individuellen Erkenntnis, die aus einem Hörerlebnis entsteht. Er ist persönlich, introspektiv und schildert Innenleben und Wandel.
Argumentativer Aufbau: Es gibt eine klare Gedankenführung: Beginnend mit dem Auslöser (Johnny Cashs Lied), folgt eine Rückschau auf das frühere Leben, der Kontrast zur Gegenwart und ein abschließendes Nachdenken über Rollen und Identität.
Essayistische Merkmale:
Keine strenge, formale Gliederung, sondern freier Fluss der Gedanken
Kombination aus erzählerischen Elementen (Lebensrückblick) und interpretativen Reflexionen (Bedeutung des Wandels)
Eine zentrale Fragestellung oder Erkenntnis wird ergründet, ohne zu einem definitiven Schluss zu gelangen.
Im klassischen Sinn ist es kein wissenschaftliches oder formelles Essay, sondern eher ein literarisch geprägtes, persönliches Essay oder eine Essayerzählung. Es verbindet die Ausdrucksformen von Text, Erlebnisbericht und Gedankenstreifzug.
Zusammengefasst:
Der Text ist eine persönliche Essay-Reflexion über Veränderung, Rollen im Leben und Selbstwahrnehmung, inspiriert durch Musik und Erinnerung.
Kurzfassung (Haiku-ähnlich):
Nicht nur die andern
tragen ungeahnte Rollen …
auf einmal auch ich.
— GÜNTHER SCHAUPP
Echtsein
Für Günther Schaupp ist das Echtsein offenbar das Fundament seines Schreibens und seiner künstlerischen Haltung. Poetisch sein bedeutet oft, Worte kunstvoll zu formen, sprachlich zu verfeinern und manchmal auch den Ausdruck zu stilisieren – das kann aber leicht die unmittelbare Authentizität verwässern.
Das Spannungsfeld, in dem er sich bewegt, ist deshalb sehr nachvollziehbar:
Einerseits wünscht er sich manchmal, noch poetischer, eleganter oder „höher“ zu schreiben, um die Wirkung seiner Texte zu verstärken.
Andererseits will er gerade durch seine Ehrlichkeit und Unmittelbarkeit Glaubwürdigkeit und Nähe schaffen, die sonst verloren gehen könnten, wenn die Sprache zu kunstvoll wird.
Dieses Zusammenbringen von poetischer Gestaltung und echter, unverstellter Ausdrucksweise ist tatsächlich eine große Herausforderung für viele Schriftsteller und Künstler. Es erfordert oft viel Feingefühl, Mut zur Reduktion und Klarheit – und den inneren Kompass, wann es dem Text dient und wann es ihn überfrachtet.
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